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Elias Venesis: Das Unsagbare schreiben

Bei der Tagung „Das Unsagbare schreiben. Prosa über Völkermord. 11.-13. Oktober 2013“ in der Evangelischen Bildungsstätte am Schwanenwerder präsentierte Michaela Prinzinger ein Referat über den neugriechischen Autor Elias Venesis unter dem Titel „Erwachsenwerden unter Lebensgefahr“.

Die neuzeitliche Geschichte des kleinasiatischen Griechentums bis hin zu den Ereignissen von 1922 ist in der neugriechischen Literatur hundertfach thematisiert worden. Von Selbstzeugnissen durch Augenzeugen knapp nach den Ereignissen bis hin zu Fiktionalisierungen in jüngster Zeit reicht der Facettenreichtum. Was sagt den heutigen, jungen Griechen das Zauberwort Smyrna noch, das tragische Jahr 1922?

Dabei denke ich vor allem an den Mega-Bestseller „Die Hexen von Smyrna“ von Mara Meimaridi, der durch eine Fernsehserie noch populärer wurde und den ich für den Insel-Verlag 2011 übersetzt habe. Wenn es Sie interessiert: Es ist aktuell als Insel-Taschenbuch erhältlich.

meimaridiDie historische Haupterzählung spielt zwischen 1888 und 1922 in Smyrna. Mara Meimaridi schildert in einer kraftvollen, dynamischen Sprache den Lebensweg der Hauptfigur Katina. Die sprachliche Färbung der Erzählung (die sprachlichen Nuancen der smyrniotischen Griechen, durchsetzt von Türkisch, Arabisch und anderen Sprachen) ist für griechische Leser besonders faszinierend. Dafür findet sich auch ein Glossar am Ende des Buches, in dem die speziellen Ausdrücke der kleinasiatischen Griechen erläutert werden. Diese kleinasiatischen Griechen haben ja die Geschichte, Mentalität und Musik Griechenlands entscheidend geprägt, als sie 1922 aus ihren Herkunftsgebieten vertrieben wurden, als Folge des Kleinasiatischen Feldzugs der Griechen, auf der Suche nach dem Traum von einem mythischen großgriechischen Reich, der von Atatürk zerstört wurde.

In Griechenland stieß dieses Buch, wie es scheint, auf eine semantische Leerstelle und ein Bedürfnis nach einer romantischen Orientalisierung der Geschichte, zu einer Zeit, da viele Leserinnen und Zuschauerinnen die Erzählung über die märchenhafte, multikulturelle Stadt Smyrna als das Schließen einer Bildungslücke empfanden. Den Intellektuellen grauste vor diesem Buch, das Publikum liebte es heiß.

Doch auch die Texte von Elias Venesis, um den es uns hier und heute vornehmlich geht, müssen sowohl bei den griechischen als auch bei den deutschen Lesern eine semantische Leerstelle und ein Bedürfnis getroffen haben, denn sonst wären sie nicht in Griechenland bis heute lieferbar (durch den Hestia Verlag) und sie wären in den Vierziger- bis Sechziger-Jahren nicht ins Deutsche übersetzt worden.

Was im griechischen Sprachraum als „kleinasiatische Katastrophe“ bezeichnet wird, hat eine Million Tote gefordert und 1-1,5 Millionen Menschen zu Heimatvertriebenen gemacht. Dazu kommt, dass eine griechische Bevölkerung von damals 5 Millionen, die in einem wesentlich ärmeren und unfruchtbareren Land lebten als die Flüchtlinge, diese hohe Zahl an Vertriebenen aufnehmen, assimilieren und ernähren musste. Wie feindselig die Alteingesessenen oft reagierten, kann man in Venesis´ Buch „Friede in attischer Bucht“ nachlesen. Im Herbst 1923 waren 25-30% der Einwohner des damaligen Staates Griechenland gerade erst ins Land gekommene „Anatolier“. Anatolien war für die Griechen der Überrest eines vor Jahrhunderten verlorenen Großreiches und verkörperte das uneingelöste Versprechen, die alte Größe wieder zu erringen. Andererseits ging Griechenland aus der „kleinasiatischen Katastrophe“ als nach dem Bevölkerungsaustausch ethnisch homogenisierte Nation hervor. Durch die Vertriebenen wurden spärlich besiedelte Gegenden kultiviert und sie halfen mit, in den Städten eine urbane Kultur zu entwickeln. 1922 war der Zeitpunkt, zu dem Griechenland zu dem wurde, was es heute ist. Das Griechentum, das – abgesehen von der griechischen Diaspora auf der ganzen Welt – außerhalb der Staatsgrenzen lebte – in Istanbul, in Smyrna und auch in Alexandria – und ökonomisch gesehen viel reicher war als die auf griechischem Staatsgebiet lebenden Einwohner, existierte nicht mehr.

Die Idee von der Wiederherstellung eines „großgriechischen Reiches“ beseelte schon die griechischen Revolutionäre von 1821. Auf der Agenda standen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Rigas Velistinlis) die Balkanländer, Kreta, Zypern, Rhodos, Thessaloniki, die Ägäischen Inseln, Thrakien und Konstantinopel. In den Balkankriegen 1912-13 war es Venizelos gelungen, Schritt für Schritt dieses Plans zu verwirklichen: Südepirus, Kreta und Südmakedonien wurden Griechenland angegliedert. Nach dem Sieg der Entente im ersten Weltkrieg, der Griechenland angehörte, und dem Vertrag von Sèvres schien nach dem Ende des osmanischen Reiches das Ziel zum Greifen nah. Griechisch bewohnte Teile Kleinasiens, der europäische Teil der Türkei und Konstantinopel/Istanbul sollten zurückgewonnen werden.

Im Mai 1919 wurden die von Griechen bewohnten Teile der Westküste Kleinasiens unter griechische Verwaltung genommen, zunächst für 5 Jahre, dann sollte laut dem Vertrag von Sèvres ein Volksentscheid durchgeführt werden und über die Zugehörigkeit des Gebiets bestimmen. Türkische Partisanen wehrten sich, worauf die Griechen Strafexpeditionen durchführten. Beiderseits kam es zu Massakern an Zivilisten. Nach einer türkischen Volkszählung von 1914 lebten in diesen Gebieten 1,8 Mill. Menschen mit griechisch-orthodoxem Hintergrund. Mustafa Kemal erkannte den Vertrag von Sèvres auch aus diesem Grund nicht an. Die Westmächte waren überrascht vom türkischen Widerstand und verhielten sich widersprüchlich, und als Venizelos gestürzt wurde, stand das griechische Militär in Kleinasien auf verlorenem Posten. Nach dem Vertrag von Sèvres sollte das osmanische Reich aufgeteilt werden und auch Armenier, Kurden und Griechen sollten ihren Anteil erhalten. Nach ersten Erfolgen der griechischen Truppen kam die Rückeroberung zum Stillstand. Nach der Schlacht am Sakarya bei Ankara begann Kemal 1922 die Gegenoffensive und am 30. August wurden die griechischen Truppen vernichtend geschlagen. Am 9. September marschierte Kemal in Smyrna/Izmir ein und die Stadt ging in Flammen auf, wobei Zehntausende Einwohner getötet wurden. Darin spiegelt sich alles, was in der griechischsprachigen Welt unter „kleinasiatischer Katastrophe“ verstanden wird. 1923 wurde im Vertrag von Lausanne der Austausch der christlichen und muslimischen Bevölkerung festgeschrieben.

venesisnummerAus der Vielzahl der einschlägigen Literatur ragen drei Texte heraus, die in der neugriechischen Literaturgeschichte die Ereignisse um 1922 in exemplarischer Weise verarbeitet haben: Stratis Doukas‘ Novelle „Geschichte eines Kriegsgefangenen“ aus dem Jahr 1929, Elias Venesis´ Roman „Nummer 31328“ aus dem Jahr 1931 (wobei die erste Fassung 1924 in mehreren Folgen in der von seinem Freund und Mentor Stratis Myrivilis auf Lesbos herausgegebenen Zeitschrift „Kambana/Die Glocke“ erschienen ist), und Dido Sotirious Roman „Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat“ (1962, dt. 1994, Originaltitel „Blutige Erde“).

Elias Venesis, Pseudonym von Elias Mellos, wurde 1904 (andere Quellen sprechen von 1898) in Ayvalik in Kleinasien als viertes Kind (von insgesamt sieben) griechischer Eltern geboren. Der Name Ayvalik soll auf den Begriff Aiolis zurückgehen, der griechische Name lautete Kydonies. Die Aiolis bzw. Äolien war das vom altgriechischen Stamm der Äolier 1100 bis 700 v. Chr. besiedelte Land an der Westküste Kleinasiens von Smyrna im Süden bis zu den Dardanellen im Norden. In der griechischen Mythologie ist Aiolos der Beherrscher der Winde. Die Stadt Ayvalik hatte im osmanischen Reich eine Sonderstellung, da dort vorwiegend Griechen siedeln durften und kaum Türken die Stadt bewohnten. Daher darf es nicht verwundern, dass die Hauptfigur Elias in Venesis´ Buch kein Türkisch kann und erst im Arbeitsbataillon Grundkenntnisse erwirbt.

Venesis´ Vater stammte aus Kefallonia, seine Mutter aus Mytilini, Lesbos. Im Buch „Äolische Erde“ wird die mythische Entstehung der Insel Lesbos und auch des gegenüberliegenden Festlandes, also alles, was für Venesis „Heimat“ bedeuten wird, auf poetische Weise gleich am Textanfang geschildert:

„Als die Wogen des Ägäischen Meeres sich teilten und die Berge von Lesbos aus der Tiefe aufzusteigen begannen, feucht, glänzend und still, da sahen die Wogen überrascht die Insel, ihren neuen Freund. Sie waren gewohnt, aus den Zonen des Kretischen Meeres herüberzuwandern und an den Küsten Anatoliens zu verlöschen, und was sie vom Festland kannten, waren harte Berge, gewaltige, schroffe Felsen, Land aus gelbem Stein. Dies Land hier aber, mit der neuen Insel, war etwas anderes – o wie Verschiedenes! Drum sagten die Wogen: Lasst uns gehen und lasst uns die Botschaft bringen dem nächsten Lande von hier, dem Land der Äolis. Lasst uns ihm von der Insel erzählen, dem neuen Land, das das Licht mit der friedlichen Stille verband, von ihrem Umriss und ihrem Rhythmus, der so sanft ist, als trage er das Schweigen in sich. Lasst uns ihm erzählen von dem Wunder des Ägäischen Meeres.

Und die Wogen kamen und brachten die Botschaft des Meeres an die äolische Küste. Es kamen immer neue und wieder neue Wogen, alle Wogen, alle sprachen sie von dem Kunstwerk dieser Insel, von dem Kleinod der Harmonie und des Schweigens.

Am ersten Tage hörten das die harten Berge des Morgenlandes und blieben gleichgültig. Sie hörten es am nächsten Tage, und wieder rührte es sie nicht. Als aber das Übel zu groß ward und sie keinen Augenblick etwas anderes hörten als die Stimme des Meeres, die ihnen von dem Wunder berichtete, da verloren die Berge ihre reglose Ruhe und neigten sich neugierig über die Wogen, um die Insel im Ägäischen Meer zu sehen. Sie waren neidisch auf ihre Harmonie und sagten: – Lasst auch uns einen Platz schaffen auf der Erde der Äolis, der so friedlich und so still ist wie die Insel! Da teilten sich die Berge, zogen sich in die Tiefe zurück, und die Landschaft, die sie zurückließen, wurde eine Gegend friedlicher Stille. Jene Berge Anatoliens hießen Kimindenia.“

Venesis´ Großvater väterlicherseits, der aus Kefallonia stammte, ließ sich nach dem Aufstand von 1821 in Ayvalik nieder. Er hieß Dimitrios Venesis, was Elias Mellos anscheinend als den eigentlichen Familiennamen betrachtet hat, den er als Literat benutzte.

venesis-aeolische_erdeBis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs, also bis zu seinem 10. Lebensjahr, lebte Venesis in Ayvalik und auf dem Landgut seiner Großeltern. Literarisch hat Elias Venesis diese Zeit in seinem Buch „Äolische Erde“ verarbeitet, das aus der Perspektive eines kindlichen Ich-Erzählers die Geschichte der Großeltern in den Kimendenia-Bergen erzählt, natürlich aus der rückblickenden Perspektive des späteren Erwachsenen, der 1943 das Buch mit seinen Jugenderinnerungen publiziert, mitten in 2. Weltkrieg, als ganz andere Dinge auf der Agenda stehen.

Das Personal dieser Familiengeschichte wird man in „Nummer 31328“ wiederfinden. Dieser Band bildet den Abschluss einer Trilogie, die Venesis´ Leben als Kind in Kleinasien, die Arbeitsbataillone 1922-23 und die Folgegeschichte nach dem Bevölkerungsaustausch umfassen. Im Original sind die Bände „Nummer 31328“ 1931, der Folgeband „Galini“, in dt. Übersetzung „Friede in attischer Bucht“ (1939) und der Rückblick und das Erinnerungsbuch an die Kindheit „Äolische Erde“ (1943) erschienen.

In deutscher Übersetzung sieht die Abfolge anders aus: Hier ist zuerst das Sehnsuchtsbuch „Äolische Erde“ im Insel Verlag, damals in Wiesbaden, erschienen (zuletzt noch einmal 2001 aufgelegt), dann 1963 der Band „Friede in attischer Bucht“ (Christian Wegner, Hamburg), der das Leben der Vertriebenen nach dem Bevölkerungsaustausch schildert, und erst 1969 Venesis´ Erstling „Nummer 31328“ mit dem Untertitel „Leidensweg in Anatolien“ (Philipp von Zabern, Mainz), auf Griechisch klang es härter: „Das Buch der Sklaverei“. Auf deutsch ist zudem 1958 der Erzählband „Boten der Versöhnung“ (Wolfgang Rothe, Heidelberg) herausgekommen. Venesis´ Übersetzer waren die klassischen Philologen und an der Deutschen Schule Athen tätigen Lehrer Helmut Flume und Roland Hampe und die spätere Professorin für Neugriechische Philologie und Übersetzerin vieler Autoren wie z. B. auch Kazantzakis, Isidora Rosenthal-Kamarinea.

Venesis´ Vater und seine Schwester Agapi blieben unfreiwillig in Ayvalik zurück, die Mutter setzte mit den anderen Geschwistern nach Mytilini über, wo dieser Teil der Familie bis 1919 verblieb. Dieser Abschied von der Heimat, wird in „Aölische Erde“, am Ende des Textes thematisiert, als der Großvater eine Handvoll Erde mitnimmt:

„Was ist das? – „Es ist nichts“, sagte schüchtern der Großvater, wie ein Kind das ertappt wurde. „Es ist nichts. Etwas Erde ist es…“ – „Erde!“ – Ja, etwas Erde von ihrem Boden. Um ein Basilikum hineinzupflanzen, sagte er ihr, in dem fremden Land, in das sie zögen. Zur Erinnerung.“

Der Text endet mit den Worten: „Erde, äolische Erde, Erde meiner Heimat…“ Die Handvoll Erde symbolisiert die Verbundenheit mit dem Heimatboden, die Sehnsucht aller Vertriebenen, in deren Augen die verlorene Heimat zum Paradies auf Erden wird. Und über diese beiden Seiten des Mittelmeeres soll sich das Griechentum wieder zu einem großen Ganzen vereinen. Bei Griechen an der Westküste Kleinasiens wird der Mythos Griechenland von Generation zu Generation wachgehalten, wie Venesis in einem autobiografischen Text schildert, um in dieser ersehnten Einheit seine Erfüllung zu finden. Die Ägäis wird zum Symbol für die Einheit des Griechentums. Diesem Setting wird Venesis in all seinen Werken folgen, auch wenn der Schauplatz außerhalb der Ägäis liegt. Das Meer spielt immer eine tragende Rolle. Und Venesis wird zum Autor, der die Vertreibung, die Entwurzelung schildert, aber auch die Menschlichkeit und das Durchhaltevermögen, die sich in diesen Lebenssituationen äußern.

„Äolische Erde“ wurde ins Französische, Schwedische, Englische (mit Vorwort von Lawrence Durrell), ins Italienische, Serbisch, Kroatische, Niederländische, Norwegische, Finnische und Rumänische übersetzt.

Die Familie kehrte erst nach fünf Jahren wieder nach Ayvalik zurück, nachdem die griechischen Truppen gelandet waren. Im September 1922 wurde Venesis, der gerade das Gymnasium absolviert hatte, von den Türken gefangen genommen und 14 Monate lang in Arbeitsbataillone im Landesinneren verschleppt. Von den 3000 Gefangenen aus Ayvalik kehrten nur ca. zwanzig lebend zurück, unter ihnen im November 1923 Venesis. Die Familie konnte sich auf Lesbos retten. Daraufhin gelangte er im Zuge des Vertrags von Lausanne und des darin vereinbarten Bevölkerungsaustausches zurück nach Lesbos zu seiner Familie, wo er u.a. als Bankbeamter arbeitete.

Zu der Zeit scharte ein junger Schriftsteller, Stratis Myrivilis, junge Kreative um sich und veröffentlichte 1924 die erste, noch rohe und sehr nah an den Ereignissen orientierte und unter dem Einfluss seiner Vorbilder stehende Version von Venesis´ Erlebnissen in der Zeitschrift „Kambana/Die Glocke“. Stratis Myrivilis hatte sich durch seinen 1924 erschienen Roman „Das Leben im Grab“ (übersetzt von Ulf-Diether Klemm bei Romiosini) seinen Platz in der neugriechischen Literaturgeschichte gesichert, indem er ein Werk schuf, das sich in eine Reihe mit der Antikriegsliteratur eines Henri Barbusse oder eines Erich-Maria Remarque stellen darf. Ihm ist es zu verdanken, dass Elias Venesis schließlich zur Feder gegriffen und seine Erlebnisse niedergeschrieben hat. In den folgenden Jahren entwickelte Venesis seinen eigenen Schreibstil, veröffentlichte 1928 seinen ersten Erzählband und überarbeitete schließlich sein Erstlingswerk, das 1931 als Buch auf Mytilini erschien. Nach seiner Versetzung nach Athen heiratete er 1938 seine ebenfalls aus Ayvalik stammende Frau, mit der er eine Tochter hatte. Im Zuge der deutschen Besatzung Athens wurde er im Oktober 1943 von der SS ins Averoff-Gefängnis gesteckt, wo er 23 Tage in Todestrakt verbrachte, bevor er auf Intervention von Intellektuellen freigelassen wurde, was er im Theaterstück „Block C“ verarbeitet hat. Im Dezember 1943 erschien, wie erwähnt, „Äolische Erde“, ein von Anfang viel gelesenes Buch. 1949 wurde Venesis, als erster europäischer Autor, vom US-amerikanischen State Department zu einem sechsmonatigen Aufenthalt in den USA eingeladen.

Bereits in den Vierziger-Jahren setzte die erste Übersetzungswelle von Venesis´ Werken ein, z. B. „Nummer 31328“ wird 1946 ins Französische, 1947 ins Italienische und Portugiesische übertragen. Zeit seines Lebens blieb der Autor nah am Zeitgeschehen und an seinen persönlichen Erlebnissen mit seiner Literatur, so thematisierte er auch den 2. Weltkrieg, die Besatzungszeit und seine Reisen. Das übersetzerische Interesse an „Nummer 31328“ hält sich bis in die 90er- und 2000er-Jahre, wo Ausgaben auf Serbisch, Rumänisch und Spanisch entstehen.

Venesis engagierte sich im Athener Kulturbetrieb, war im Verwaltungsrat des Nationaltheaters, Mitarbeiter des Staatlichen Rundfunks, Leiter des Kinofestivals Thessaloniki, 1957 wurde er Mitglied der Athener Akademie. Er wurde für sein Werkmit dem  Staatspreis für Literatur und von der Athener Akademie  ausgezeichnet. 1971 erkrankte er schwer an Kehlkopf- und Gesichtskrebs, und nach seinem Tod 1973 erschien posthum der Band „Sei gegrüßt, Kleinasien“. Er wurde auf dem kleinen Friedhof von Mythimna auf Lesbos bestattet, auf dem Grabstein steht nicht sein Name, sondern nur das Wort „Galini“, der Titel seines 1939 erschienenen Romans, was, wie uns auch der Übersetzer bzw. Verleger der deutschen Ausgabe erläutert, Stille, Ruhe, Klarheit des Himmels und Seelenruhe bedeutet.

venesis-friedeDie Widmung im griechischen Original lautet: „Meiner gequälten Mutter, allen Müttern dieser Welt.“ Damit ist schon ein erster Ansatz klar: die Allgemeingültigkeit des Bildes der leidenden Mutter, deren Kind in Todesgefahr gerät – egal, welcher Nationalität oder Religion sie angehört. Somit wird eine Brücke geschlagen zwischen den Tätern und Opfern, die eine reziproke Beziehung verbindet, v. a. zwischen Griechen und Türken. Dies wird auch im Buch thematisiert, die griechischen Gefangenen, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen, haben Angst, an die entsprechenden Orte zurückzukehren. Dort werden sie dann auch gebührend empfangen und fallen Vergeltungsmaßnahmen zum Opfer.

Die Erstausgabe als Buch erfolgte 1931 auf Lesbos unter der Genre-Bezeichnung „Chronik“, die 2., leicht überarbeitete Auflage 1954 in Athen und die 3., noch stärker überarbeitete Auflage 1952 beim Hestia-Verlag in Athen. Es fällt generell schwer, Venesis Bücher als „Romane“ zu kategorisieren, dazu sind sie zu wenig straff konzipiert, was einerseits von der griechischen Literaturkritik angemahnt, andererseits aber auch als innovatives Plus anerkannt wurde. Das mythische und das träumerische Element bekommt einen Platz in Venesis´ Texten, die Innerlichkeit und die freie Form werden zu seinen Markenzeichen. Seine Aufarbeitung der Erfahrungen von 1922 sind kein all umfassendes Epos, sondern eine subjektive Schilderung, die dennoch Allgemeingültigkeit erreicht- und zwar durch ihren Erzählstil.

Im Vorwort zur 5. Auflage wird eine These entwickelt, warum das Werk nach dem 2. Weltkrieg eine bemerkenswerte Aktualität erhalten hat: Es handle sich um eine Wiederholung der Geschichte, um eine Aufteilung in Täter und Opfer, um dieselben Phänomene in den von Hitler-Deutschland besetzten Ländern. Es sei ein Buch der Sklaverei und des Schmerzes, aber auch der menschlichen Solidarität, eine beispielhafte Erzählung, das durch seine Schlichtheit und das Fehlen jedes überflüssigen Kommentars bewegt, durch die Genauigkeit der Beschreibung, fern von Hass und Rhetorik. Täter und Opfer werden ohne Vorurteile und ohne Aggression und Wut dargestellt. Es wird der Aspekt des Buches hervorgehoben, der es über einen Augenzeugenbericht eines historischen Ereignisses, über die Beschreibung von Kriegsereignissen hinaushebt.

Im Vorwort des Autors zur 2. Auflage 1945 heißt es, das Buch sei mit Blut geschrieben, es sei dem körperlichen Schmerz, nicht dem seelischen des gequälten menschlichen Körpers gewidmet. „Es gibt nichts Tieferes und Heiligeres als einen geschundenen Körper.“ Diese Aussage scheint darauf hinzudeuten, dass Venesis das Märtyrertum auf der Ebene des geschundenen, sterblichen Leibes abhandelt, die Seele wäre also unantastbar, da unsterblich.

Venesis schrieb dieses Vorwort 21 Jahre nach der ersten Fassung von 1924, die er 1931 für die Buchpublikation überarbeitet hat. Seitdem habe er den Text nicht mehr in der Hand gehabt, da ihm das Schreiben sehr nahe gegangen sei. Dieses dichte und bittere Material, das nach einem sprachlichen Ausdruck suchte, habe ihn sehr mitgenommen. Verfolgt von Alpträumen und Erinnerungen, habe er damals auch im Schlaf keine Ruhe finden können. Das Leben verlange nach Vergessen, daher habe er nicht mehr gewagt, das Buch anzusehen.

Aber durch die neuen Leiden im Zuge des Zweiten Weltkriegs, die deutsche Besatzung im Frühling und Sommer 1944 wurden die alten Geschichten und die Erfahrungen der Jugend wieder aktuell. Die Vorgeschichte zu „Nummer 31328“, das Buch „Äolische Erde“, entstand mitten in den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs, darin habe sich die Sehnsucht nach dem Frieden, nach der Güte im Menschen ausgedrückt, es sei ein einfaches Buch über gute Menschen. Unmittelbar danach habe er „Nummer 31328“ noch einmal überarbeitet, sich noch einmal dem Schmerz und der Trauer gestellt. Und nach den Ereignisssen von 1944 (Bürgerkrieg) und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei ihm klar geworden, wie groß die stilistische und emotionale Nähe seines Erstlings zu den Kriegserfahrungen zwanzig Jahre später sei. Das Buch sei jahrelang von der Zensur verboten gewesen und habe jetzt das traurige Privileg, erneut nach einem großen Krieg zu erscheinen (nach 3maliger Bearbeitung durch den Autor). Bildete damals das Buch den Protest eines unerfahrenen Kindes gegen den Krieg, so bilde es jetzt den Protest eines erwachsenen Menschen.

Das Buch besteht aus genau 20 Kapiteln, jedes davon ist mit einem Motto versehen, das aus einem Bibelzitat aus dem Buch der Psalmen besteht. Damit wird die Aussage aus dem Vorwort unterstrichen: „Es gibt nichts Tieferes und Heiligeres als einen geschundenen Körper.“ Das körperliche (und seelische) Martyrium führt zur Erlösung. Schon der Anfang des Textes, erst der Psalm, dann die Aussage: „1922. Anatolien war so süß – wie für ein Sonett oder etwas von der Art. Alles in der Natur war sanft und mild in diesem Herbst“ überführt Realität in Fiktionalität, in das Formenreich der Literatur. Das Liedhafte wird betont durch Psalm und Sonett.

Dann folgen die Fakten: „Der Feind hatte Aiwali, unsere Heimatstadt, besetzt. Im Hafen ankerten Dampfer mit amerikanischen Flaggen. Befehl: Frauen und Kinder sollten als unbrauchbare Ware nach Griechenland verfrachtet werden. Aber die Männer von achtzehn bis fünfundvierzig sollten ins Landesinnere kommen, als Sklaven in den Arbeitsbataillonen.“

Der Feind wird nicht benannt, wird sozusagen verallgemeinert. Auch Freund und Feind, so wie Täter und Opfer sind reziproke, austauschbare Inhalte, „unbrauchbare Ware“ und „Sklaven“: Eine unbrauchbare Ware ist ökonomisch uninteressant, ist für den Handel nicht geeignet, hat keinen Wert mehr. Der Mensch verkommt zur Ware in den Kriegshändeln, die gegen nichts mehr eingetauscht werden kann. Der Autor schreibt ein paar Absätze weiter unten: „Ich war gerade achtzehn Jahre alt, keine Fracht für Griechenland, nicht ein Kilo, nicht einmal ein Gramm „verdorbener Ware“ – nichts.“ Er wird außerdem zum Sklaven, zum rechtlosen Wesen, das keinen Namen mehr hat, keine Kleidung, keine Identität. Daher wird die „Nummer“ so wichtig für die Sklaven, denn sie verspricht Bürokratie. Die Nummer beweist meine Existenz. Ich habe eine Nummer, also bin ich. Der Glaube an die Bürokratie, nicht als Dehumanisierung, sondern als Rettungsanker, als Lebensquell, als Existenzbeweis versetzt Berge. Diese Sklaven wollen nichts wissen von einer Bürokratie der Vernichtung und des Todes, sondern sie klammern sich an die rechtsstaatliche Bürokratie, die alles aufschreibt und katalogisiert, bei der nichts und niemand verloren geht.

koundourosElias wird gefangengenommen, seine Mutter besucht ihn. Diese universelle Szene kommt auch in der Verfilmung von Nikos Koundouros vor. Der griechische Filmemacher Nikos Koundouros, geb. 1926 auf Kreta, hat eine sehr ausgeprägte Filmsprache. 1963 erhielt er für seinen Film „Mikres Aphrodites“ den Silbernen Bären der Berlinale. 1978 hat er den Film „1922“ gedreht, der Venesis´ Roman als Vorlage nimmt. Anders als Venesis´ Erzählung spielt der Film sehr lange in der Stadt (Ayvalik/Smyrna) und fängt das dortige Leben und die Beziehungen zwischen Türken und Griechen ein, bevor der Marsch der Gefangenen ins Landesinnere beginnt. Außerdem schildert der Film nur den Marsch und nicht das Lagerleben. Auffällig ist, dass die „positiven“ Szenen fehlen, in denen auch der „Feind“ ein menschliches Antlitz zeigt. Der Abschied von der Mutter ist auch im Buch eine Schlüsselszene, jedoch mit anderem Text.

Der Zufall als Auswahlprinzip: Venesis thematisiert den Aspekt, der in der Lager-Literatur immer wieder zur Sprache kommt: Die Irrwitzigkeit des Zufalls, der über Leben oder Tod entscheidet. Ein Soldat wählt Gefangene aus, die sofort getötet werden. S. 26: „Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob er Junge oder Alte auswähle.“ Der Ich-Erzähler glaubt also noch an Logik, an Vernunft. „Aber ich sah, dass er zugriff, wie es gerade kam, aus allen Altersstufen. Inzwischen war das Licht angekommen. Es hielt vor mir. Ich fühlte mich mit meinen jungen Jahren unbeschützt, so Brust an Brust mit der Gefahr. Mein Atem stockte. Der Offizier streckte seine Hand aus, um mich hervorzuzerren. Aber in eben diesem Augenblick, einem Nichts von einem Augenblick, stolperte er in seiner Trunkenheit. Er lachte, versuchte das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Aber bei dieser Bewegung verlagerte sich seine Stellung um ein paar Zentimeter, ein paar nichtige Zentimeter. Seine Hand fiel stracks auf den Kapitän neben mir. Ich atmete tief auf. In mir herrschte eine harte Freude, eine so harte und grausame Freude…“

Der Zufall hat dem Ich-Erzähler das Leben geschenkt. Logik und Vernunft sind außer Kraft gesetzt. Der Ich-Erzähler freut sich über das Unglück, über den Tod des Anderen, weil es für ihn Leben bedeutet. Die Dehumanisierung schreitet fort. Eine Rehumanisierung findet erst später statt, und zwar durch die erzählerische Ironie, durch den distanzschaffenden spöttischen, humorvollen Blick, den sich der Ich-Erzähler selbst in den schlimmsten Stunden bewahren kann. Genau dieser Blick ist es, der „Nummer 31328“ zu einem die Zeiten überdauernden Kunstwerk macht und über einen „normalen“ Zeugenbericht hinaushebt.

Der Marsch zu den Arbeitsbataillonen wird zum Todesmarsch. Der Tod kann jederzeit eintreten, er wird allgegenwärtig, er folgt keinen Regeln, keiner Logik. Es folgt das auch aus der KZ-Literatur bekannte Entkleiden und Ablegen jeden persönlichen Besitzes als Schritt zur Dehumanisierung, zur Verwandlung in „verdorbene Ware“:

„Tsikar (Ausziehen), sagten die Soldaten und zeigten auf unsere Mäntel. Ich verstand es nicht, sah aber, wie die anderen beiden neben mir sich auszogen. Da begann auch ich. Tsikar, Tsikar, riefen die Soldaten in einem fort. Wir zogen stumm die Jacken, dann die Hosen, die Stiefel, die Socken aus. Als wir nur noch Unterhemd und Unterhose anhatten, stieß man uns zu den andern weißen Schatten, die weiter drüben murmelten. Ich war ganz erledigt, wusste nicht mehr, was ich war. (…) Etwa eine Stunde dauerte die Geschichte mit dem „Tsikar“. Alle Gefährten wurden ausgezogen, der Kleider, Decken, aller Habseligkeiten entblößt. Wir brachen auf. Es dämmerte. Nur einer kam nicht mit uns, der Pepas. Zwei Soldaten blieben bei ihm. Es verging etwa eine Stunde, in der wir standen und warteten. Die zwei Soldaten kehrten alleine zurück.“

venesis-botenDie Gefangenen sind zu Gefährten geworden, zu Kameraden, die ein gemeinsames Schicksal teilen. Zuvor Unbekannte haben nun etwas Gemeinsames, alle sind Sklaven geworden, alle sind gleich. Das fremde, unverständliche Wort Tsikar, zunächst zwei unverständliche Silben, die nichts bedeuten, wird auf einmal semantisch aufgeladen. Aus der Reaktion auf die unverständlichen Laute erschließt sich die Bedeutung für den Ich-Erzähler. Entkleidet jeder Persönlichkeit, weiß er nicht mehr, wer er ist, auch nicht mehr, ob Mann oder Frau. Als rechtloser Gefangener ist er kein Mann mehr, sondern wird begehrt wie eine Frau, wird verfügbar und verletzbar. Die Androhung von Vergewaltigungen sorgt für eine Gleichstellung der Geschlechter. Der Ich-Erzähler und sein Freund erstarren vor Angst, als ihnen dies bewusst wird:

„Der Arjiris verstand alles, weil er türkisch konnte. Aber auch ich ahnte, was sie sagten. Er lag so dicht bei mir, dass ich sein Herz ganz rasch schlagen hörte. Er klammerte sich an mich. Elias, sagte er erschüttert. Nein, nein, nur das nicht. Auch ich war vor Angst in Schweiß gebadet. „Das“ hatte ich nicht befürchtet, nicht geahnt. Mit einem Male erinnerte ich mich einer Reihe von Geschichten, die ich darüber gehört hatte. Und plötzlich loderte der Stolz wie eine Flamme in dem gedemütigten Tiere auf. Etwas wie Würde bei allem Schmutz und aller Nacktheit, trotz aller Tränen – es war geradezu komisch. Nein, Arjiris, lieber sterben. Ich werde alles versuchen, um zu sterben.“

Die jungen Männer haben Glück, denn die Soldaten ziehen die Frauen vor. Eine der erschütterndsten Szenen des Buches entwickelt sich in Kap. 4: die Vergewaltigung einer jungen Mutter in einer Kirche. Die Gefangenen werden Zeugen, sind wie magisch angezogen vom Geschehen. Diese erste Vergewaltigung dehumanisiert die Frau, die erst danach wieder rehumanisiert wird:

„Inzwischen begann die Frau wieder zu sich zu kommen. Sie verlangte nach ihrem Kindchen. Sie beugte sich über das Kind wie ein riesiger Vogel und wandte ihr Gesicht dem Dunkel zu. So abgewandt, voller Scham, begann sie wieder sanft, menschlich, fast kultiviert zu weinen. Auch der letzte Gefährte war von ihrer Seite gewichen. Nur ich und der Arjiris bleiben dort, aufrecht stehend. Da sah ich, wie er sich sehr taktvoll über sie beugte, seine Hand zaghaft auf ihre Schulter legte; kaum, dass er sie berührte. Weinen Sie nicht…, sagte er ihr. Weinen Sie nicht…, so – im Plural. Aber diese unerwartete Höflichkeit versetzt ihr einen solchen Schock, dass die Tränenströme erneut hervorbrachen.“

Die Vergewaltigungen der weiblichen Gefangenen werden systematisch betrieben und verschaffen den anderen eine Verschnaufpause, daher werden sie mittlerweile herbeigesehnt. Alle menschlichen Verhaltensweisen werden fallen gelassen, jeder schaut auf sich selbst, beispielhaft gezeigt an dem oben erwähnten kleinen Kind, das den Gefangenen aufgebürdet wird und von keinem gerne übernommen wird. Wut und Hass wächst in den gequälten Herzen. Um selbst davonzukommen, nimmt man auch den Tod des Kindes billigend in Kauf. Ja, auch die Frauen unter den Gefangenen bieten sich selbst den Soldaten an, um sich und den anderen eine Ruhepause zu verschaffen. Eine Gefangene versucht, das Begehren des Offiziers zu schüren: „Unser aller Augen blickten gebannt dorthin nach der Krake, die sich unaufhörlich regte, seine Schenkel strich und schmeichelte und flehte. Auch wir bewegten unbewusst unsere Hände, wie um jene Hände zu verstärken, damit sie nicht nachließen. Denn die Szene war schön und heilig – darum.“

Freundschaften entstehen unter den Gefangenen, sobald der Marsch zu Ende ist und zwischenmenschliche Bedürfnisse wieder erwachen: „Jeder trachtete danach, sich einem anderen anzunähern – wir beschnupperten uns wie die Tiere, die eine Witterung haben. Es war eine Annäherung voller Zurückhaltung und voller Furcht; so kommen wilde Tiere nachts vorsichtig aus ihren Höhlen, weil sie hungern, so voller Unruhe“.

Das Feind-Schema wird aufgebrochen, menschliche Kontakte zw. Tätern und Opfern entstehen (S. 113-4). Es entsteht so etwas wie „Glück“: ein alter Türke gibt den Gefangenen Tabak. Eine alte Frau bringt Brot und Quitten, sie spricht mit Elias wie eine Mutter zu ihrem Sohn. Ein junger Arzt, dessen Mutter, wie – sich herausstellt – von den Griechen umgebracht wurde, nimmt den fieberkranken Elias als Übersetzer zu sich und behandelt ihn gut. Es entsteht eine Beziehung zwischen beiden, die (was ich als Übersetzerin besonders faszinierend finde) auf der Basis des Übersetzens: „Er hatte einige französische Gebrauchsanweisungen für Medikamente. Es war ihm nicht leicht, sie richtig zu interpretieren. Auch nicht mit dem Lexikon, denn er brachte die Tempora durcheinander und konnte den Infinitiv nicht finden. Darin half ich ihm. Ich fand das französische Wort im französisch-türkischen Lexikon und gab ihm das entsprechende türk. Wort zu lesen. So arbeiteten wir stundenlang miteinander.“

Elias konnte kein Türkisch vor seiner Gefangenschaft, d.h. für ihn war die Welt der anderen semantisch verschlossen. Über das Französische, das der Grieche und der Türke nur radebrechend sprechen, entsteht eine Brücke der Kommunikation. Der junge türkische Arzt ist neu an dem Ort und daher offen für neue Beziehungen. Für Elias eröffnet sich eine neue Welt, erst mit der Erfahrung der Verschleppung beginnt er, die anderen auch sprachlich wahrzunehmen. Was Griechen und Türken eint, ist ihre gemeinsame Abneigung gegenüber den Armeniern.

Ein Element, das dieses Buch so lesbar macht, ist der Sinn für das Absurde und der Humor, der auch in der unmenschlichsten Lage überlebt. So kommt es zu einer Episode mit (selbsternannten) Wünschelrutengängern, die in einem Dorf die Wasseradern finden sollen und dies auch mit viel Hokuspokus schaffen. Oder einer, der sich als Narr geriert, verschafft den Zwangsarbeitern eine Ruhepause, indem er umständlich einen eitlen Soldaten malt.

S. 133-4 (ab 237 im dt. Text) kommt zum ersten Mal die Rede auf die für das Buch namensgebende „Nummer“, als freigesprochene Kriegsgefangene aus Smyrna eintreffen, die Blechschildchen mit einer Schnur am Handgelenk tragen, die eine türkische Zahl tragen. Sie erzählen, sie seien registriert worden, und den anderen will diese Registierung wie eine Lebensversicherung erscheinen, denn dann kann man nicht so schnell verschwinden, sondern ist in einem bürokratischen Prozess eingebunden, es wird Rechenschaft abgelegt, wenn man zugrunde geht. Wenn die Nummer zugeteilt wird, endet die Angst. S. 152 wird endlich die ersehnte Nummer 31328 zugeteilt.

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Doch auch die Solidarität unter den Gefangenen ist nicht lückenlos, auch hier gibt es Ausnahmen, die auf Kosten der anderen versuchen, sich durchzuschlagen. Ein Musterbeispiel dafür bilden – aus der Lagerliteratur bekannt – die Kapos, in diesem Fall türkisch sprechende Griechen, die nicht arbeiten müssen, sondern die Aufsicht führen: „In diese Stellen gelangten, wie es immer geschieht, die Verschlagensten. Griechen und Armenier. Sie lösten sich sofort aus der dichten Masse, die wir waren – wie alten Krusten, die nicht mehr haften wollen, von der Haut. Um sich beim Bataillon beliebt zu machen, saugten sie uns bei der Arbeit aus. Sie fürchteten weder Gott noch Teufel. Des Abends machten sie Meldung: Das und das geschah. Das Bataillon sagte dazu Bravo.“ Einer der Kapos geht sogar so weit, die ihm unterstellten Sklaven zum Abschlachten weiterzuverkaufen. So ist ein ganzer Zug in der Nacht verschwunden, ohne wiederzukehren.

Die Arbeitskräfte werden im Umland vermietet und für Infrastrukturarbeiten eingesetzt. Wie in anderer Lagerliteratur auch wird die Rationierung und Qualität des Essens thematisiert. S. 171 wird ein Massengrab entdeckt, wo Männer, Frauen und Kinder als Vergeltungsmaßnahme umgebracht wurden. Zum ersten Mal ist die Rede von einem Gefangenen-Austausch, der den Zwangsarbeitern jedoch nur als Köder hingehalten wird, aus Bosheit. Die Sklaven müssen bei der Wildschweinjagd als Treiber dienen. Im Lager entwickeln sich menschliche Beziehungen und Freundschaften. Namen und Nummern werden egal, nur das Herz zählt und verbindet. S. 187: „Das Lager organisierte sich immer mehr. Wir waren, sozusagen, ein kleiner Staat.“ Und dieser Staat teilt sich in das Volk, die Arbeiter, und in die Aristokratie, die Kollaborateure, die Kapos und Unteraufseher unter den Sklaven, die von den Bauern geschmiert werden, bei denen Frondienst ansteht. Die Kapos beginnen, die Arbeiter auszubeuten, indem sie Kantinen eröffnen und den Arbeitern das Geld aus der Tasche ziehen. Elias verweigert sich, als der schlimmste Kapo ihn als Dienstburschen und Leibkoch engagieren will. Daraufhin wird Elias von Kapo-Michal besonders geschunden. Die Kapos haben sich eine neue Methode der Ausbeutung ausgedacht: Sie knöpfen den Arbeitern ihre Erspartes ab, indem sie ihnen versprechen, sie vor einem Transport ins Landesinnere zu bewahren.

Im Lager bilden sich neue Solidaritäten. Die türkischen Soldaten, ehemalige Deserteure, die zur Bewachung der Gefangenen abgestellt wurden, fordern auf Anraten der Gefangenen ihre Papiere, nachdem sie schon weit über ihre Zeit gedient haben. Nachdem sie für ihre Anmaßung ausgepeitscht wurden, fühlen sie sich solidarisch mit den Sklaven und nähern sich ihnen immer mehr an. Aus „Esir“, dem Kriegsgefangenen, wird „Arkadasch“, der Kamerad.

Nachdem die Sklaven eine Schlucht mit Gebeinen räumen mussten, damit eine Kontrolle des Lagers durch einen spanischen Abgesandten ohne Zwischenfälle verläuft, spotten sie über den Dünger, der irgendwann aus diesen Knochen gewonnen und teuer verkauft wird. Ebenso wird der Spanier Ziel des Spottes: „Die „Figur“, der Spaniole, machte eine rasche Runde bei den Sklaven, trug verschiedene Orden, war wie ein nasses Masthuhn, so schwitzte er. Er wischte sich die Backen ab und sagte, während ihm der Schweiß niederrann: Oui bien, oui bien. Ja, gut, ja, gut.“ Was sofort zum geflügelten Wort unter den Gefangenen wird.

Das Geschichtenerzählen wird zum Fluchtpunkt für die Gefangenen, die seelischen Traumata werden spürbar, der angestaute Hass findet keinen Ausweg, die Gedankenspiele werden zur Obesession. So sagt der Ich-Erzähler: „Wenn wir je aus den Arbeitsbataillonen der Sklaven entkommen, so hoffe ich, dass wir die kritischsten Gehirne von der Welt sein werden.“

Als türkische Kriegsgefangene aus Griechenland im Zuge des Bevölkerungsaustausches ins Lager kommen, entsteht bald ein Gefühl der menschlichen Solidarität, da beide Gruppen dasselbe Schicksal teilen, nämlich aus der Heimat entwurzelt zu sein. Die Kinder der türkischen Gefangenen werden von den Griechen „adoptiert“, gefüttert und betreut. Einen tragischen Höhepunkt erfährt die Geschichte, als Elias´ bester, väterlicher Freund Miltos stirbt.

Am Schluss des Textes, als sie mit dem Dampfer unterwegs in die Freiheit sind, muss Elias einem anderen Freund die bittere Wahrheit offenbaren, die er ihm die ganze Zeit erspart hatte, nämlich, dass seine Familie nicht überlebt hat. Der Text endet mit dem Morgengrauen und der Gewissheit, dass bald ein neuer Tag anbricht und ein neues Leben beginnt.

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