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Parthenon und Brauron: Traumprotokolle von Giorgos Seferis und Odysseas Elytis

Das klassische Bildungsgut spielt bei der Selbstfindung der neugriechischen kulturellen Identität – kaum überraschend – eine herausragende Rolle. Zu einer näheren Erläuterung dieser Thematik bedient sich Michaela Prinzinger keiner Präsentation antiker Einflüsse im Werk bestimmter neugriechischer Autoren, sondern einer etwas ungewöhnlichen Technik, nämlich der Traumanalyse.

Sowohl Giorgos Seferis als auch Odysseas Elytis haben – zum Teil recht intime – Traumprotokolle verfertigt und sich nicht gescheut, sie dem Licht der Öffentlichkeit auszusetzen. Elytis fasste in seinem 1974 erschienenen Essayband „Mit offenen Karten“ über zwanzig ausführliche Träume in einem eigenen Kapitel zusammen und äußerte sich auch an anderen Stellen zur Rolle der Träume in der Psychoanalyse und im Surrealismus, wo der Traum als poetisches Rohmaterial betrachtet wurde. Seferis notierte eine Reihe von Träumen in seinen Tagebüchern und veröffentlichte 1970 ein Essay über Artemidoros von Daldis und seine Symbolik der Träume. Darin erweist er den beiden Eckpfeilern in der Entwicklung der Traumdeutung seine Reverenz: Artemidoros aus dem 2. Jhdt unserer Zeitrechnung und Sigmund Freud, der im Jahr 1900 sein bahnbrechendes Werk über die Entdeckung der geheimen Bedeutung der Träume und damit des Unbewussten publizierte.

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Seferis verfasst in seinem Essay über Artemidoros einen Traumbericht, eine Hommage an den zweiten großen Traumforscher nach dem Daldianer: In diesem Traum befindet er sich auf der Akropolis in einer unbestimmten Zeit in der Zukunft; ein Gefühl der Fremdheit beschleicht ihn, so als käme er aus einer fernen Vergangenheit; eine aufgeregte Menschenmenge vor der Westseite des Tempels, die fasziniert auf die mittleren Säulen des Parthenon starrt, verhöhnt ihn vulgär, als er fragt, was vorgehe. Eine Versteigerung sei im Gange, die alten Steine würden – ein genialer Handstreich der Regierung – unter den Hammer kommen. Seferis verwendet hier das italienische Wort genio, um die Geistesgröße der politischen Macht zu kennzeichnen.

Wenn sich die Vertreter der amerikanischen Zahnpastafirma durchsetzten, dann sei das griechische Staatsbudget auf Jahrzehnte hinaus gerettet. Seferis fragt naiv, was sie denn mit dem Parthenon anfangen würden. Die Menge informiert ihn, dass die Amerikaner – ihrem Ruf als Verkaufsgenies gerecht werdend – den Säulen die Form von Zahnpastatuben verleihen wollten. Die Menge um Seferis ebbt zurück, er fühlt sich mutterseelenallein. Er erblickt in einer Vision den Parthenon grässlich entblößt, ohne Giebel und ohne Gesims, mit den glänzend behauenen Säulen in Gestalt riesiger Zahnpastatuben. Seferis schreckt um 5 Uhr morgens schreiend aus diesem Angsttraum auf.

Seferis unternimmt keine eigene Interpretation dieses Traumgebildes. Es ist auch für den Laien unschwer nach der Systematik von Artemidoros als ephialtes, einer Untergattung der phantasmata, also einer Steigerung ins Phantastisch-Verzerrte, zu erkennen. Seferis schlägt in seinem Text über den Traum und seine Deutung eine Brücke zwischen der Antike und der Moderne, indem er Artemidoros´ Traumsymbolik mit der Entdeckung des Unbewussten um die Jahrhundertwende verknüpft. Der Parthenon tritt als Topos der Moderne und entrückte Vision der Antike auf.

Der Traum und seine Protollierung als literarische Technik der Moderne (Romantik, Surrealismus) wird für die Aufrufung und zugleich Entrückung des antiken Erbes eingesetzt. Das übermächtige Finanzkapital begräbt das geistige Kapital unter sich; den Nachfahren wird alptraumartig ihre Tradition und Geschichte enteignet. Seferis ist in der jubelnden Masse, die den alten Steinen nicht mehr als eine Handvoll Dollar abgewinnen kann, zur lähmenden Untätigkeit verdammt. Der neugriechische Intellektuelle steht dem Ausverkauf der Kultur des Griechentums in seiner ganzen historischen Kontinuität machtlos gegenüber.

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Seferis erwähnt im selben Essay Freuds Besuch der Akropolis im September 1904, den dieser in einem Text mit dem Titel „Erinnerungsstörung auf der Akropolis“ beschrieben hat. Auf der Akropolis wunderte sich Freud nämlich: „Also existiert das alles wirklich so wie wir es auf der Schule gelernt haben?!“ Er realisierte, dass er an der Existenz der Akropolis gezweifelt hatte. Die erwartete Reaktion jedoch hätte nicht Zweifel , sondern Erhebung und Entzückung sein sollen. Freud verspürte einerseits ein Entfremdungsgefühl, „was ich da sehe, ist nicht wirklich“, das dem Phänomen der Verdrängung nahesteht, und andererseits ein Gefühl des „Déjà vu“, das eine Vereinnahmungstendenz beinhaltet. Diese Erinnerungsstörung, diese Verfälschung der Wahrnehmung bildet für Freud sogar die Vorstufe der Persönlichkeitsspaltung.

Die Akropolis in den Augen von Sigmund Freud symbolisiert das antike Bildungsideal in der Wahrnehmung der europäischen Intellektuellen. Verdrängung und Vereinnahmung, Idealisierung und Entrückung der Antike ins Unerreichbare und Überwirkliche kennzeichnen deren Standpunkt. Freud, der – wie Seferis erwähnt – in seiner Jugend ein Tagebuch in altgriechischer Sprache führte, scheut vor der Einlösung des antiken Ideals in der Wirklichkeit zurück. Lässt sich das Verhältnis der europäischen Intelligenz zur Akropolis, sprich zur antiken Bildung, nicht auch als Erinnerungsstörung, als Verfälschung der Vergangenheit beschreiben?

Odysseas Elytis hat in seinem 1974 veröffentlichten Essayband „Mit offenen Karten“ tiefe Einblicke in sein Seelenleben gewährt. Träume sind laut Elytis dem Wahn verwandt und verdrängt, tabuisiert, verboten worden, da sie die menschlichen Gefühle bloßlegten. Elytis sucht einen Weg der Traumdeutung jenseits der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse und der Volkstümlichkeit der populären Traumdeuter. Träume bilden für ihn – ähnlich wie für Seferis – eine ursprüngliche Form der Poesie, zu der jeder Zugang habe – ohne Unterschied der Herkunft und der Bildung. In seinem Text Junge Mädchen bekennt er, dass er den Ehrgeiz hatte, unter dem Einfluss der Psychoanalyse und des Surrealismus aus diesem biologischen Phänomen eine poetische Theorie abzuleiten.

Bekanntlich gewann Freud seine wichtigsten Erkenntnisse durch die Deutung seiner eigenen Träume. Er postulierte in seinem epochalen Werk Die Traumdeutung: „Aber dafür schwingt sich im Traum die als Phantasie zu benennende Tätigkeit der Seele, frei von aller Verstandesherrschaft und damit der strengen Maße ledig, zur unbeschränkten Herrschaft auf. Sie nimmt zwar die letzten Bausteine aus dem Gedächtnis des Wachens, aber führt aus ihnen Gebäude auf, die von den Gebilden des Wachens himmelweit verschieden sind, sie zeigt sich im Traume nicht nur reproduktiv, sondern auch produktiv.“

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Museum Artemis-Heiligtum in Brauron

Die Antike versuchte der Symbolik der Träume durch eine Chiffriermethode, durch Traumbücher beizukommen, die den Traum als Geheimschrift behandelten. Der Unterschied von Freuds modernem Ansatz war: Der Träumer deutet seinen Traum selbst, führt die Deutungsarbeit durch, assoziiert seine Gedanken zum Trauminhalt. Der Traum bildet eine intellektuelle Leistung, die eine Parallele zur philosophischen oder dichterischen Eingebung darstellt. Auf Freud aufbauend erklärte Breton in seinem ersten surrealistischen Manifest 1924: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“ Elytis folgt getreu der Aufforderung Bretons, ein neues Bewusstsein durch Selbstbeobachtung zu entwickeln und den komplexen Mechanismus der Inspiration zu untersuchen. Elytis deutet jedoch seine Träume nicht selbst, sondern stellt sie zur freien Disposition des Lesers.

Der dreizehnte Traum, den Elytis protokolliert, handelt vom Heiligtum der Artemis in Brauron. Der Traum besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil befindet sich eine Menschenmenge vor einer kleinen Eingangstür, plötzlich weicht die Menge zurück und Elytis betritt über eine kleine Holzbrücke die antike Stätte von Brauron. Dort erblickt er zwei Gestalten, die zwischen den Säulen wandeln: Giorgos Katsimbalis (der von Henry Miller als „Koloss von Maroussi“ beschriebenen Gallionsfigur der sog. „Generation der dreißiger Jahre“) und Andreas Karantonis (dem repräsentativsten und konsequentesten Literaturkritiker der „Generation der dreißiger Jahre“ und Herausgeber der modernistischen Literaturzeitschrift Neue Literatur/Nea Grammata).

Im zweiten Teil zeigt der mit Elytis befreundete Dichter D. P. Papaditsas (ebenfalls einer der vom Surrealismus beeinflussten Autoren) Elytis im Gelände von Brauron – wo, so Elytis, auch in der Gegenwart noch schlammige Pfützen stünden – einen herrlichen, überirdisch anmutenden Anblick: ein blondes kleines halbnacktes Mädchen sitzt mit gekreuzten Armen am Rande eines Sees am Fuße eines kristallklaren Wasserfalls und starrt ins Leere. Elytis ist von diesem Anblick sprachlos gebannt und kann sich nicht sattsehen.

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Museum Artemis-Heiligtum in Brauron

Im dritten Teil will Elytis verhindern, dass sich Papaditsas begeistert in den See stürzt, dieser zieht sich bereits die Schuhe aus und legt gerade sein Jackett ab, als Elytis sich nicht mehr anders als mit Gewalt zu helfen weiß. Ein Faustkampf folgt, doch vergeblich: Papaditsas entwindet sich Elytis´ Zugriff und stürzt sich in voller Kleidung in die Fluten, die Vision des Mädchens löst sich in Nichts auf und alles versinkt im Schlamm. Elytis notiert am Schluss des Traums ein tiefes Gefühl der Niedergeschlagenheit.

Da Elytis es vorzog, diesen Traum unkommentiert zu veröffentlichen, ist die Interpretation auf seine weiteren Texte angewiesen. Der Parthenon, die Akropolis bzw. der Tempel von Brauron als Symbole der Beziehung zur Antike verweisen auf Seferis´ und Elytis´ Verhältnis zu Tradition und Vergangenheit. Wiederholt kommt Elytis auf die Anfänge der antiken Lyrik, auf Sappho und Archilochos zu sprechen, die seiner Ansicht nach als erste überhaupt Gefühle, Träume und persönlichen Schmerz thematisierten und damit den Anfangspunkt der westlichen Zivilisation setzten. Elytis schlägt in seinen Prosatexten eine Brücke zwischen der Poesie und dem Traum – als einem der Poesie analogem Phänomen – in der Antike einerseits und in der Moderne, speziell im Surrealismus, andererseits. Elytis konstruiert in immer neuen Versuchen seine Architektonik einer einheitlichen griechischen Kultur.

Im ersten Interpretationsschritt möchte ich den Aspekt der Säulen beleuchten, d. h. die Träger des Traum-Bauwerks, dieses geistigen Konstrukts, das sich aus Elementen der Wirklichkeit zusammensetzt. Was bzw. wen verkörpern diese Säulen? Elytis verwendet in einem seiner Essays das Bild eines quasi zeitlosen Bauwerks, das die Verschmelzung eines antiken Tempels mit einer byzantinischen Kirche sein könnte: „Am poetischen Horizont zeichnen sich an einer Fassadenseite des einheitlichen griechischen Logos deutlich drei durch Bögen verbundene Säulen ab: Pindar, Romanos, Kalvos.“ Der byzantinische Hymnenschreiber Romanos bildet für Elytis das mittelalterliche Bindeglied zwischen Pindar und Andreas Kalvos, einem von Elytis als non-konformistischen Vorfahren der Moderne wiederentdeckten Lyriker des 19. Jahrhunderts.

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Museum Artemis-Heiligtum in Brauron

Wie Karyatiden, bzw. wie die lebendig eingemauerten Bauopfer des neugriechischen Volksglaubens, werden die drei Dichter als Säulenträger in das einheitliche Gebäude der griechischen Sprache und Kultur eingebaut. Elytis variiert diese Konstruktion immer wieder; an anderer Stelle beschreibt er eine weitere Fassade, als deren Mittelträger Solomos, Palamas und Sikelianos, an deren entgegengesetzten Enden Kalvos und Kavafis stehen. Die europäische Entsprechung dazu sind laut Elytis Baudelaire, Verlaine, Mallarme und Valery als zentrale Figuren und Mittelsäulen, die poetischen Rebellen Rimbaud und Lautréamont als dem einen und die angelsächsische Moderne mit Eliot und Pound als dem anderen Eckpfeiler. Die Verlängerung in die historische Tiefendimension stellt sowohl für die griechische als auch für die europäische Tradition die antike Lyrik mit Sappho, Pindar, Alkaios und Archilochos dar.

Katsimbalis und Karantonis, die wesentlich zum Eigenverständnis der „Generation der dreißiger Jahre“ beitrugen, gehen in Elytis´ Traum zwischen den Säulen spazieren. Beide waren durch ihre Tätigkeit als Kritiker, Bibliographen und Gönner erheblich daran beteiligt, die Säulenträger des neugriechischen Kulturtempels zu küren. Elytis imaginiert sich zusammen mit Seferis, trotz seines Liebäugelns mit der revolutionären Praxis eines Rimbaud, Lautréamont oder Kalvos sowohl im Leben als auch in der Kunst, doch wohl eher als mittlere tragende Säule denn als extremistischer Eckpfeiler.

Wenn Seferis das Bild des Parthenon durch die Ersetzung der Säulen mit amerikanischen Zahnpastatuben ins Absurde verkehrt, dann verschiebt seine Traumarbeit die individuellen Kulturträger zu mechanisch reproduzierbaren Waren, die auf dem Weltmarkt konkurrieren. Dahinter steht die Furcht vor dem Ausverkauf der Kultur und dem Verlust der eigenen Identität, die sich bei Seferis und Elytis stets über die Kontinuität des Griechentums (als Landschaft, als Natur, als Sprache) definiert. Die ironische Kehrseite des kulturellen Genies und der dichterischen Imagination äußert sich im banalen verkäuferischen Talent eines gefinkelten Jahrmarkthändlers – sei es die griechische Regierung, sei es die amerikanische Industrie.

Vom antiken Heiligtum und seinen Säulenträgern bzw. Dichtergrößen, unter denen Katsimbalis und Karantonis wandeln dürfen, vom Parthenon und von Brauron führt der traumdeuterische Weg über eine sprachliche Verschiebung zu dem von Elytis entwickelten Bild von der Erneuerung des poetischen Wortes. Dieses Wieder-Jungfräulich-Werden des Wortes korrespondiert mit dem Bild von der inspirativen Wirkung der Kind-Frau, eine Rückkehr zum Infantilen, die ja auch bei Freud eine wesentliche Komponente des Traumtriebes darstellt.

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Artemis-Heiligtum in Brauron

Die Erneuerung des poetischen Bildes, die dichterische Inspiration im allgemeinen korreliert bei Elytis stets mit der Liebe und dem Auftreten der Objekte des Begehrens. So tritt in seinem protokollierten Traum ein kleines blondes Mädchen auf, das an einem kristallklaren Wasserfall sitzt. Die Kind-Frau, die kindliche Göttin der Liebe, dient bei Elytis als Motivation aller künstlerischen Schaffenskraft. Sie verkörpert dabei nicht nur allein den Eros, sondern eine verborgene Kräftekomponente, die jedem Menschen zugänglich ist: die Fantasie, der Traum, das Unbewusste. In seinem Essay „Rechenschaft vor Andreas Embirikos“ bemerkt Elytis, bei Embirikos trete der Eros nicht in der aus der Mythologie bekannten Form des kleinen Jungen auf, sondern in Gestalt eines wunderschönen kleinen Mädchens. Einer modernen Göttin, deren Zauberstab ein Blütenstengel oder gurgelndes Wasser sei; was sie berühre, gewinne seine Unschuld zurück und werde gleichzeitig erotisiert.

Das Bild des kristallklaren Wasserfalls, der erfrischenden reinen Quelle, bildet eine Verbindung zum Reich des Unbewussten und des Traumes, wie von Freud und den Surrealisten formuliert. Der Dichter kehrt darin an die Quelle der Sprache zurück, wo die seelischen Zustände, die Traumassoziationen, die Ideen sich eröffnen und die Welt neu hervorgebracht wird. Die übliche Form des Gedichtes wird verpönt und stattdessen dem automatischen Schreiben, dem Diktat des Unbewussten, dem Traumprotokoll gehuldigt. Eine unversiegliche Quelle beginnt, Goldkörner aber auch Schlamm hervorzuschwemmen. Elytis bezeichnet die automatische Schreibweise als Sammelbecken, dessen Schleusen sich für die Assoziationen des Unbewussten öffnen.

Die Kontinuität von Landschaft und Natur zwischen Antike und Gegenwart kristallisiert sich deutlich in Elytis´ Satz: „Die ummauerte Quelle an der Landstraße erinnert an einen kleinen, alltäglichen Parthenon.“ Damit wird die entrückte, verdrängte und entfremdete Vision des antiken Parthenons wieder in eine irdische, reale, alltägliche neugriechische Erfahrung zurückverwandelt. Die eingefasste Quelle verkörpert bereits einen zähmenden, zivilisierenden Eingriff in die ungezügelte Kraft der natürlichen Quelle. Der Parthenon wird dadurch zum Bauwerk, das sich über der reinen natürlichen Quelle der jahrtausendealten griechischen Tradition erhebt: der antiken Lyriker (Pindar, Sappho, Archilochos, Alkaios, Ibykos, Aischrion), Krinagoras, Platon, Heraklit, Romanos, der Volkslieder bis zu Solomos, Kalvos, Palamas, Sikelianos, Seferis und Elytis selbst.

Zum Abschluss bleibt noch die Figur des Dichters Papaditsas zu deuten, die sich trotz Elytis´ heftiger Gegenwehr in die klaren Fluten stürzt, nur um die Vision des jungfräulichen Mädchens zum Erlöschen zu bringen und im Schlamm zu waten. Die Kehrseite der reinen Inspiration ist der Schlamm, der am Grunde des Sammelbeckens des Unbewussten liegt. Papaditsas findet in Elytis´ Prosatexten keine weitere Erwähnung außer in diesem Traumprotokoll. Wer verbirgt sich latent hinter dem Namen Papaditsas? Die Lösung ergibt sich aus der Lektüre von Elytis´ Essays: Es fand eine Verschiebung im zweiten Teil des Namens statt, an die Stelle von Papadi-tsas tritt Papadi-amantis. Papaditsas und auch Elytis´ durchleben im Traum dieselbe Versuchung wie der Ich-Erzähler in Papadiamantis´ Kurzgeschichte „Der Traum auf den Wellen“ (1900).

papadiamantisIn dieser Erzählung erinnert sich der Ich-Erzähler an das Jahr 1876, als er achtzehn Jahre alt und Ziegenhirte eines Klosters auf seiner Heimatinsel war. Eines Abends nach Sonnenuntergang, in einer lauen Augustnacht, überkommt ihn der Wunsch, im Meer zu baden. Er bindet seine Lieblingsziege Moschoula an einen Strauch, legt seine Kleider ab und ergeht sich nackt im Meer, fühlt sich eins mit der Natur, verschmilzt mit dem feuchten Element. Als er zu seiner Herde zurückkehren möchte, hört er plötzlich das Plätschern eines anderen Körpers im Meer: das von ihm aus der Ferne verehrte sechzehnjährige Mädchen Moschoula (nachdem er sein Zicklein benannt hat) nimmt ebenfalls ein Bad im Mondschein. Von der romantischen Szene hin- und hergerissen zwischen seiner Hirtenpflicht und seiner Neugier, beobachtet er das nackte Mädchen auf den glitzernden Wellen.

Ihr Anblick scheint ihm ein Lufthauch, ein unvorstellbares Idol, ein auf den Wellen schaukelnder Traum zu sein: eine Nereide, Nymphe, Sirene, die wie ein magisches Schiff der Träume auf dem Wasser dahingleitet. Der junge Hirte ist durch den Anblick gebannt, sprachlos, in eine Ekstase versetzt, allem Irdischen enthoben. Unersättlich schaut er den Traum auf den Wellen und kann sich nicht losreißen, bis das Wehklagen der Ziege Moschoula ihn an seine Pflichten und an die wirkliche Welt erinnert. Das Mädchen erschrickt und droht zu ertrinken. Kurz entschlossen stürzt sich der Junge in die Fluten, um sie zu retten. Er war in der glücklichen Lage, für einen Augenblick lang seinen Traum mit Händen greifen zu können. Das Mädchen Moschoula wurde gerettet und danach von der Traumerscheinung wieder zu einer Frau wie alle anderen. Der kleine Hirte jedoch opferte für sie sein Lieblingszicklein Moschoula, das sich – so wie er es befürchtete hatte – am steilen Abgrund strangulierte.

Elytis hebt in einem Essay mit dem Titel „Papadiamantis´ Magie“ dessen unschuldig-voyeurhaftes Schauen hervor und vergleicht dessen poetische Bilder mit Traumassoziationen. In seinem Brauron-Traum schlüpft Elytis in die Rolle des unersättlichen, ekstatischen Voyeurs beim Anblick der nackten blonden Kind-Frau. Doch genauso, wie er selbst Papadiamantis charakterisiert, nämlich als Jäger sinnlicher Eindrücke, der die körperlichen Reize auf eine unschuldige, fast Ehrfurcht einflößende Weise beschreibt, bleibt auch Elytis auf Distanz zum Objekt des Begehrens. Ihm genügt der Anblick, so wie dem kleinen Hirten, der nur im äußersten Notfall, als das Leben der Begehrten in Gefahr gerät, in die Fluten springt. Elytis´ Alter Ego, Papaditsas, der sich ebenso eilig in den Traumsee stürzt, symbolisiert die Kehrseite des reinen ekstatischen Schauens: die Gier des Besitzen-Wollens und das Bestreben, das fantasierte Begehren in der Wirklichkeit einzulösen.

Moschoula, das Mädchen, überlebt und Moschoula, das Zicklein, wird getötet. Das Menschenopfer wird durch ein Tieropfer ersetzt, ganz im Gegenteil zum Fall der Iphigenie, deren Vater bereit ist, sie dem Altar auszuliefern, um sich günstigen Wind für die Ausfahrt seiner Flotte zu erkaufen. Das mythische Grab der Iphigenie im Heiligtum zu Brauron schließt den Kreis zu Elytis´ Traum vom reinen Kind an der Quelle des Unbewussten und der dichterischen Imagination.

Text: Michaela Prinzinger: Fotos: Michaela Prinzinger.

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