In der zweisprachigen Reihe „Offene Briefe“ publiziert die Edition Romiosini nun nach Eleni Varopoulous Brief an Heiner Müller ein sehr persönliches Schreiben von Petros Markaris an seinen langjährigen Freund, den Regisseur Theo Angelopoulos, in dem er sich angesichts der Flüchtlingsströme in Europa fragt, wie sich der mitten in seinen letzten Dreharbeiten so plötzlich Verstorbene dazu stellen würde. Übersetzt von Michaela Prinzinger.
Athen, im Oktober 2016
Lieber Herzensfreund Theo,
Seit deinem Tod vor fast fünf Jahren verspüre ich zum ersten Mal das Bedürfnis, dir zu schreiben. Bestimmt wirst du das, was ich zu sagen haben, besser als jeder andere verstehen.
Während ich in den vergangenen Monaten das Flüchtlingsdrama in Griechenland und ganz Europa verfolgte, musste ich ständig an deinen Film »Der schwebende Schritt des Storchs« denken. Ich erinnere mich, dass du mir bei unseren Gesprächen über das Drehbuch gesagt hast, die Migrationsproblematik sei die große Frage unserer Zeit. Deine Vorahnung hat sich bestätigt.
Bevor ich mich an diesen Brief setzte, habe ich mir den Film noch einmal angesehen. Dabei dachte ich an seine Erstaufführung zurück, als wir alle das Flüchtlingsdrama im Film sprachlos verfolgten. Deine Vorahnung hat sich bestätigt, aber die Odyssee der Migranten, die im Film erzählt wird, wirkt im Vergleich zu den drama-tischen Erfahrungen der heutigen Flüchtlinge »harmlos«.
Ich hörte, wie sich die Hauptfigur des Films fragte: »Wie viele Grenzen müssen wir überqueren, bis wir am Ziel sind?« Und ich sah den Journalisten wieder vor mir, der mit »schwebendem Schritt« an der Grenze steht und sagt: Wenn er seinen Fuß auf die Erde setze, befinde er sich in einem anderen Land.
Lieber Theo, für die heutigen Flüchtlinge wäre keines von beiden möglich. Deiner Hauptfigur würde sich die Frage »Wie viele Grenzen müssen wir überqueren, bis wir am Ziel sind?« gar nicht stellen, da die Grenzen von Mazedonien (oder Former Yugoslav Republic of Macedonia, kurz FYROM, wie die Griechen es nennen) bis Österreich dicht sind. Wohin ich auch blicke, überall nur Stacheldraht und Mauern. Und dein Journalist würde mit »schwebendem Schritt« an der griechischen Grenze in Idomeni verharren müssen. Und der Zeitpunkt, wann er seinen Fuß in ein anderes Land setzen könnte, wäre nicht absehbar. (…)
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Text: Petros Markaris. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Foto: Nelly Tragousti.
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