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Landkarte

Gedicht von Pambos Kouzalis, Lyriker aus Zypern, übersetzt von Michaela Prinzinger für Lesungen im Zuge der Crowd Omnibus Reading Tour 2016.

Landkarte

Jeden Abend ordne ich Grenzen und Flaggen.
Die Lider werden schwer – wo sind die Sieger, wo die Besiegten.
Wie Münder, die das Alphabet vergessen haben, giert ihr nach Worten.
Um Mitternacht entspringt ozeangroßer Zorn.
Mitten aus dem Meer tauchen wutschäumende Vulkane empor,
deren Lava aus ihren zusammengebissenen Zähnen dringt.
Neugeborene Ströme, runzelige Linien,
reißen Straßensperren und stacheligen Draht mit sich.
Ich stecke neue Grenzlinien ab,
mit silbernen Fibeln halte ich Kontinente und Gebirge zusammen,
aber noch vor dem Morgen
platzen die Nahtstellen auf
und ganze Länder verschwinden von der Landkarte.
Im Morgengrauen wehen die Flaggen an anderen Orten.
Mütter betrauern unbekannte Gefallene,
beweinen sie wie eigene Verwandte.
Eine Maria Magdalena umarmt die Füße eines gekreuzigten Kindes.
In einem Krug wird Wein in Wasser umgetauft.
Die Hochzeitsfeier wird abgebrochen, und der Bräutigam muss fort in die Schlacht.

Text: Pambos Kouzalis. Übersetzung: Michaela Prinzinger. Foto: Angelos Christofilopoulos.

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