Artikel von Michaela Prinzinger für die griechische Tageszeitung „Zeitung der Redakteure“ über die „Bücher meines Lebens“. Hier der ursprüngliche deutsche Text, Dank an den Redakteur Michel Fais, Dank an Elena Pallantza für die Übersetzung ins Griechische.
Was meine Lektüre als Kind und Jugendliche betrifft, befiel mich zunächst Amnesie. Ich musste eine Weile nachdenken, bis mir ein Werk ins Gedächtnis kam. Und dann war die Erinnerung plötzlich da: Es war die „Nibelungen-Sage“. Hatte mein Gedächtnis diesen deutschen Mythos, diese deutsche Ilias und Odyssee gelöscht? Blonde Helden, Wagner, Hitler, Bayreuther Festspiele und Frau Merkel mit tiefem Dekolleté? Als Kind hatte ich keine Ahnung, was aus dieser spannenden Geschichte später geworden war. Ich zitterte mit den strahlenden Helden Siegfried und Krimhild und fürchtete mich vor den dunklen Helden Brunhild und Hagen. Es ging um Macht, Liebe, Sex und Geld. Also darum, worum es immer geht. Es war eine Seifenoper, eine Fernsehserie, ein Panoptikum menschlicher Gefühle und Abgründe. In einer griechischen linken Zeitung sollte man vielleicht nicht erzählen, dass man die Nibelungen toll fand. Aber es war nun einmal so, und es gehört zu meiner Sozialisation.
Dieser Akt der versuchten Verdrängung führt zu einem Autor, der mich als Jugendliche tief beeindruckt hat: Siegmund Freud. Ich las als Dreizehn- oder Vierzehnjährige vom Ich, vom Über-Ich, vom Es, von der Macht der Träume, von Freuds Umdeutung der antiken Mythen. Wahrscheinlich ist es Freud- ein Mann mit einer enormen Bildung – gewesen, der mich dazu gebracht hat, mich für die Antike zu interessieren. Ich halte ihn bis heute für einen der größten deutschsprachigen Schriftsteller. Es ist kein Zufall, dass es ein Wiener Jude war, der so tief in das Unbewusste der Menschen geschaut hat. Ich war fasziniert. Später habe ich die jüdischen Wiener Literaten gelesen, deren verlängertes Wohnzimmer das Kaffeehaus war, und bin auf ihren Spuren gewandelt. Das Wiener Kaffeehaus fehlt mir am meisten in meiner Wahlheimat Berlin, als ein Ort der Begegnung von Jung und Alt, von Gymnasiasten und Pensionisten, von Links und Rechts, von Reich und Arm, wo man mit einem Kaffee und einem Glas Wasser stundenlang, vom Kellner unbehelligt, schmökern kann.
In der Phase des emotionalen Sturm und Drang, um die Zwanzig, war es ein Dichter, den ich tief berührt las: Karyotakis. Gerade hatte ich begonnen, die griechische Sprache zu lernen. Karyotakis, der Gescheiterte, berührte mich tief, ganz ähnlich wie später Vizyinos, sein Seelenverwandter. Mich faszinierten diejenigen, die am wie auch immer gearteten „System“ scheiterten, Karyotakis an der Beamtenlaufbahn, Vizyinos an der akademischen Karriere. Die Querdenker, die radikalen Gefühlsmenschen, die Träumer, die sich in den Wahn flüchten, weil sie nicht anders können. Damals lauschte ich immer wieder der feinen, hohen Stimme von Savvina Giannatou, mit den Vertonungen von Karyotakis-Gedichten.
Dem Sturm und Drang folgte der Feminismus mit einem seiner Schlüsselwerke, Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ (A Room of One’s Own). Frauen brauchen Freiräume, jenseits von sozialen Verpflichtungen wie Familie und Partnerschaft, um kreativ sein zu können. Tja, daran knabbern wir immer noch. Das ist noch lange nicht erreicht, ich meine innerlich und emotional, nicht, von den äußeren Umständen her. Ich kenne kaum eine Mutter, die kein schlechtes Gewissen hat, wenn sie zuerst an sich denkt und ihren Interessen folgt und sich dann erst nach ihrem Kind richtet. In dem Sinne ist Woolfs Buch ein Lehrwerk, das immer wieder neu gelesen werden muss.
Dann kommt die Phase im Leben, in der man sich mit dem Thema „Macht“ auseinandersetzen muss und wie man sich dazu verhält, wenn es um Beruf, Erfolg, Karriere geht. Hier haben mich zwei Literaten geprägt: Die Eine, die es gewagt hat, mit beißender Ironie und wortgewaltig einen Diskurs über Sexualität als Machtausübung zu führen: Elfriede Jelinek. Und der Andere, der große Stilist, Humorist und Provokateur Thomas Bernhard. Beide haben ihr Leben lang gegen die bequeme Opferhaltung (hier: der Österreicher), gegen Ignoranz und Alltagsfaschismus angeschrieben.
Zum Abschluss noch eine griechische Autorin, deren Werk unbedingt übersetzt werden sollte: Ioanna Karystiani. Ich halte ihren Roman „Ta Sakia“ für ein Meisterwerk. Vielleicht ist es ein Buch, vor dem sich sowohl die griechischen als auch die deutschen Leser fürchten, weil es ans „Eingemachte“ geht. Es geht um innerfamiliäre Gewalt und um ein Mutter-Sohn-Verhältnis, das sezierend, subtil und entlarvend dargestellt wird. Damit erzählt es uns viel über – nicht nur – die griechische Gesellschaft. Ich finde es schade, dass sich ihr deutscher Verlag nur für ihre „lieblicheren“ Bücher interessiert. „Ta Sakia“ ist ein unbequemes Buch, und genau deswegen hat es das Zeug zu einem großen europäischen Literaturpreis, aber dafür muss es erst einmal übersetzt werden, um außerhalb der engen Sprachgrenzen wahrgenommen zu werden…
https://efsyn.gr/a…/me-goiteyoyn-panta-aytoi-poy-perisseyoyn
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