Michaela Prinzinger positioniert sich mit übersetzungstheoretischen Gedanken zum Literaturübersetzen: Was ist Übersetzen? In welchem Verhältnis stehen Textvorlage und Übersetzungstext zueinander? Was tut der Übersetzer?
„Übersetzen ist über-setzen, traducere navem. Wer nun zur Seefahrt aufgelegt, ein Schiff bemannen und mit vollem Segel an das Gestade jenseits führen kann, muß dennoch landen, wo andrer Boden ist und andre Luft streicht. Wir übertragen treu, weil wir uns in alle Eigenheiten der fremden Zunge einsaugen und uns das Herz fassen sie nachzuahmen, aber allzutreu, weil sich Form und Gehalt der Wörter in zwei Sprachen niemals genau decken können und was jene gewinnt, dieser einbüßt. Während also die freien Übersetzungen bloß den Gedanken erreichen wollen und die Schönheit des Gewandes daran geben, mühen sich die strengen das Gewand nachzuweben pedantisch ab und bleiben hinter dem Urtext stehn, dessen Form und Inhalt ungesucht und natürlich zusammenstimmen.“[1]
Jacob Grimm hat in seiner 1847 vorgetragenen Schrift „Über das Pedantische in der deutschen Sprache“ das ewige Dilemma formuliert: Soll man wortgetreu oder sinngemäß übersetzen? Soll man der Form oder dem Gehalt den Vorzug geben? Diese Fragestellung hatte sich seit der Antike kaum verändert.[2] Grimm stellte sich, wie schon einige Theoretiker vor und viele nach ihm, drei Grundfragen:
Was ist Übersetzen?
In welchem Verhältnis stehen Textvorlage und Übersetzungstext zueinander?
Was tut der Übersetzer?

Was ist Übersetzen?
Übersetzen ist in erster Linie eine Dienstleistung, einen Text einem Leser zu erschließen, der die Sprache des Originals nicht oder nicht ausreichend beherrscht. Diese Dienstleistung wird im literarischen Bereich in einem institutionellen Geflecht aus Verlag, Lektor, Agent und – und äußerst wichtig als Verbindung zur Basis – Verlagsvertreter erbracht.
Einig scheint man sich darüber zu sein: Der Übersetzer überträgt nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die in der Sprache bewahrt ist. Diesem Umstand, so heißt es in den oben genannten Kreisen, soll der Übersetzende Rechnung tragen, ohne jedoch das Original zu simplifizieren, um es „gut lesbar“ zu machen. Der Zielsprachen-Leser sei gerade an der Fremdheit des übersetzten Werkes interessiert.
Somit schält sich aus der Grundsatzfrage „Was ist Übersetzen?“ noch eine Kernfrage heraus: „Was ist Fremdheit im übersetzten literarischen Text?“
Seferis hat seine prägende Übersetzung des Klassikers der Moderne „The Waste Land“ metafrasi genannt, seine Übersetzungen englischer und französischer Gedichte Antigrafes/Abschriften und die Übersetzung biblischer Texte aus dem Kirchengriechischen in das volkssprachliche Neugriechisch metagrafi/Übertragung (Hohelied und Johannes-Apokalypse). In der Vorrede zu den Abschriften erläuterte Seferis seine Wortwahl, indem er die Übersetzer von Gedichten mit Kopisten von Gemälden vergleicht, die zu Übungszwecken oder gegen Bestellung Kunstwerke in Museen imitieren. Elytis nannte seinen Band mit Übersetzungen Defteri Grafi/Zweite Version.[3]
Seferis hat in seiner „Waste Land“-Übersetzung selbst Eigennamen hellenisiert, aus Marie und Albert wurden Maria und Jannis, aus der London Bridge wurde To Giofyri tis Londras. Das heißt, er hat die Fremdheit des Ausgangstextes sogar aus den Realien eliminieren wollen.
Fremdheit im übersetzten Text stellt sich also zum einen durch Realien her. Sie bezeichnen ein Element des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik eines bestimmten Volkes, Landes oder Ortes, das keine unmittelbare Entsprechung in anderen Völkern, Ländern oder Orten hat. Realien sind Identitätsträger eines nationalen bzw. ethnischen Gebildes, einer nationalen bzw. ethnischen Kultur. Daher muß man Realien transformieren, des öfteren kontextuell erklären. Man muß Begriffe, Objekte, Abkürzungen, Titel, Feiertage, Anreden, Grußfloskeln, Interjektionen, Gesten verstehbar machen.
Literarische Übersetzungen können dazu beitragen, fremdkulturelle Begriffe heimisch zu machen. Bei einer Übersetzung, die ich jüngst fertiggestellt habe, hat mich der Verwandtschaftsbegriff Koumbaros/Koumbara/Koumbari in Verlegenheit gestürzt, der in einem modernen Erzähltext wohl kaum mit dem historisch naheliegenden „Gevatter/Gevatterin“ (aus compater) oder dem zu stark mit Konnotationen belasteten „Paten“ wiedergegeben werden kann. Schließlich habe ich den ausgangssprachlichen Begriff im Text eingeführt, da das soziale Netz der Vetternschaft, die ja aus Trauzeugen und Taufpaten besteht, in einem Roman aus Kreta besonders zum Tragen kommt. Somit habe ich dem deutschsprachigen Leser eine Realie wie eine Laus in den Pelz gesetzt.
Zum Teil führt der Übersetzer Unbekanntes ein, indem er Realien einbürgert, zum Teil macht er es durch Bekanntes verstehbar. Übersetzen ist somit einerseits ein Akt der Auslöschung, der Aneignung, der Unterwerfung, der Absorbierung so wie der „Feind“, der „Fremde“ umgebracht werden muss, um die eigene Identität zu erhalten, es ist ein Bewusstwerden der Differenz des Selbst, des Eigenen gegenüber dem Fremden, dem Anderen.[4] Andererseits ist Übersetzen gerade das Verheilen der Fremdheit und der Differenz, das aber immer eine Narbe und damit sichtbar bleibt. Bewahrt der übersetzte Text einen größeren Anteil an Fremdheit, so sind oft Fußnoten, ein Vor- oder Nachwort, ein Glossar notwendig, die den Übersetzer sichtbar machen. Je treuer die Übersetzung also ist, desto sichtbarer ist der Übersetzer. Je untreuer, desto anonymer ist er, desto weniger wird er bemerkt.
Was ist Übersetzen?
Übersetzen ist Eingliedern eines fremdkulturellen Textes in eine Zielkultur.

In welchem Verhältnis stehen Textvorlage und Übersetzungstext zueinander?
Martin Luther hat in seinem berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ das Schlagwort der „Verdeutschung“ geprägt. Seinen Kritikern, die ihm eine zu freie Bibelübersetzung vorwarfen, hielt er entgegen: „Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“[5]
Argumentiert Luther für das Verdeutschen, so plädiert Friedrich Schleiermacher in seiner Schrift „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“, 1813, für das verfremdende Übersetzen. Er will den „Geist der Ursprache“ zum klingen bringen, wobei in der Übersetzung die Spuren der Mühe fühlbar und das Gefühl des Fremden beigemischt bleiben sollen. Für Schleiermacher gibt es zwei Typen von Übersetzern: „Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. (…) Ein unerlässliches Erfordernis dieser Methode des Übersetzens ist eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnden lässt, dass sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei.“[6]
Der verfremdende Übersetzer nimmt eine gewisse Unbeholfenheit in Kauf, den „wunderbarsten Stand der Erniedrigung“, nämlich die Muttersprache bisweilen schroff und steif erscheinen zu lassen, um dem Leser anstößig zu werden. Die entgegengesetzte Methode, die den Text klingen lässt, als hätte der Autor den Text selbst auf Deutsch geschrieben, mute dem Leser keinerlei Anstrengung zu und zaubere ihm den fremden Verfasser in seine unmittelbare Gegenwart.
Die Fremdheit, mit der Schleiermacher argumentiert, entspringt weniger dem Inhalt als der Form – also vorwiegend einer Anverwandlung der fremdsprachlichen Syntax, der Metaphern, der Wortspiele.
Für einige Theoretiker, bis hin zu Walter Benjamin, bleibt die Interlinearversion die treueste und beste Wiedergabe.[7] Für andere, wie Schleiermacher, bleibt die philologische, die gelehrte Übersetzung unerreicht, die den Leser zum Autor hinbewegt, in der die ausgangssprachlichen Zeichen den Text in syntaktischer, semantischer und pragmatischer Hinsicht bis hin zu völligen Verfremdung der Zielsprache prägen. Heutzutage erwarten Auftraggeber von einer literarischen Übersetzung, dass sie kommunikativ ist: Man soll ihr die Übersetzung nicht anmerken, sie soll den Regeln und Normen der Zielsprache entsprechen und nicht unnötig verfremden.
Besonders brisant wird die Debatte um Fremdheit oder Verdeutschung auf dem Gebiet der Syntax. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass dieser Schritt der schwerste im Translationsvorgang ist: nämlich der Schritt, sich von der ausgangssprachlichen Syntax zu lösen, die stilistischen Defekte der Verstehens- oder Transfer-Phase zu überwinden und stilistisch gelungene Sätze in der Zielsprache zu formulieren.
Wie die einzelnen Satzglieder aufeinander folgen, ist nämlich im Griechischen und Deutschen alternativ. Auch die Informationsverteilung ist gegenläufig: Das Griechische ist eine Sprache, in der das Verb links von seinen Erweiterungen (Objekten, Adverbialbestimmungen) steht, diese schließen sich nach rechts an. Im Deutschen steht das Verb links oder rechts, die Erweiterungen erfolgen nach links. Somit ist die Abfolge der Informationseinheiten in ganz bestimmten sprachlichen Strukturen geregelt. Das heißt für das Übersetzen, daß in jedem Fall Umstrukturierungen notwendig werden.
Den Mittelpunkt des Magnetfeldes, des Gravitationsfeldes des Deutschen und des Griechischen bildet der jeweilige grammatische Kern: das Verb. Im Griechischen liegt der Schwerpunkt relativ weit vorne im Satz, das Deutsche hingegen ist besonders durch die Verbendstellung geprägt. In der Übersetzung muß man diese unterschiedliche Informationsverteilung entsprechend kompensieren, durch Partikel etwa oder durch satzübergreifende Kausalzusammenhänge. Daraus erwächst ein grundsätzlich anderer Satzrhythmus.[8]
Die feuilletonistische – und also nicht translationswissenschaftliche – Übersetzungskritik greift zu kurz, wenn sie sich an einzelne Wörter oder Sätze klammert, oder gar Rückübersetzungen anfertigt, die dann als Kritikpunkt verwertet werden. Denn man muß sich klarmachen: Je übergreifender die Strukturen werden, desto treuer kann die Übersetzung sein. Beim einzelnen Wort ist der Entscheidungsprozeß besonders zugespitzt, der Übersetzer kann ja nicht zu jedem Wort eine Abhandlung hinzufügen. Auf der Ebene des Satzes mit der jeweils sprachspezifischen Syntax sind die Abbildungsmöglichkeiten, wie wir gesehen haben, eingeschränkt. Erst die satzübergreifenden Strukturen ermöglichen es wieder, dem Original näher zu kommen, durch interpretative Maßnahmen, Brücken zu bauen von Satz zu Satz, von Kapitel zu Kapitel, bis der ganze Roman neu entsteht. In diesem Sinne stehen Original und Übersetzung in einem Verhältnis der Stimmigkeit, die aus einem Dialog zwischen Übersetzer und Text erwächst.
In welchem Verhältnis stehen Textvorlage und Übersetzungstext zueinander?
Beide Texte stehen in einem Verhältnis der Stimmigkeit. Die Wahrheit der Mitteilung gehört beiden gemeinsam, wie bei einem Dialog.

Was tut der Übersetzer?
Der Übersetzungsvorgang durchläuft drei Phasen: Analyse, Transfer und Synthese. In der Analyse-Phase erfolgt eine erste Interlinear-Wahrnehmung und wörtliche Übersetzung, in der Transfer- oder Verstehens-Phase erfolgt eine Deverbalisierung, d. h. die Lösung vom Wortlaut und die Übertragung des Sinnes. Hier hätten auch Kommentare und Erläuterungen philologischer Natur ihren Platz. In der dritten, der Reverbalisierungs-Phase wird der Text durch eine neuerliche Synthese für den Zielsprachenleser verständlich und verarbeitbar gemacht.
Um die psycholinguistischen Vorgänge einzuordnen, die sich im Hirn des Übersetzers abspielen, muß ein entscheidender Begriff eingeführt werden – der Begriff der Äquivalenz, der Gleichwertigkeit.
Wie sich aus der Darstellung der Syntaxübertragung ergeben hat, ist es wenig sinnvoll, sprachliche Strukturen miteinander zu vergleichen, denn es werden nicht Grammatikformen übersetzt, sondern Texte, die einen gewissen Inhalt und eine gewisse Wirkung transportieren wollen. Dadurch tritt der Begriff der Äquivalenz in den Vordergrund: Übersetzungen können nicht identisch sein, da der Aufbau der Einzelsprachen verschieden ist. Grundlegend für die systematische Übersetzungs-Forschung waren Erfahrungen mit Bibelübersetzungen. Dabei wurde erkannt: Jede Sprache transportiert auch ihr eigenes Weltbild, und in der Übertragung ändert sich durch die Form notgedrungen auch der Inhalt.
Aus der Geschichte der Bibelübertragungen haben Nida und Taber 1969[9] eine damals bahnbrechende Theorie des Übersetzung entwickelt, die den Grundsatz formuliert: „Der Übersetzer muß sich um Gleichwertigkeit und nicht um Gleichheit bemühen.“ Sie führen den Begriff der formalen und der dynamischen Äquivalenz ein: Die formale Äquivalenz konzentriert sich auf die Botschaft, sowohl was die Form als auch was den Inhalt betrifft. Die dynamische Äquivalenz zielt auf die Natürlichkeit des Ausdrucks ab, versucht den Empfänger auf ähnliche Verhaltensmuster im eigenen Kulturkontext hinzuweisen. Der Zielsprachen-Leser muß nicht die kulturellen Muster in der Originalsprache kennen, um die Botschaft zu verstehen. Die formale Äquivalenz ähnelt Schleiermachers Verfremdung, die dynamische Äquivalenz Luthers Verdeutschung. Die geforderte Gleichwertigkeit lässt die Übersetzung wie ein Original klingen, damit die Empfänger der Botschaft möglichst gleichartig wie die Empfänger in der Ausgangskultur reagieren.
Äquivalenz steht Begriffen nahe wie Angemessenheit oder Adäquatheit, Übereinstimmung, Korrespondenz, sinngemäße Entsprechung, Wirkungsgleichheit. Ziel der Übersetzung ist also Wirkungsäquivalenz, und zwar nicht auf der Wort- oder auf der Satzebene, sondern auf der Textebene.
Was tut der Übersetzer?
Er führt eine syntaktische Ausgangstextanalyse durch, und nach dem Transfer der Grundstrukturen gelangt er zur Synthese der Übersetzung. Dabei sucht er nicht die formale, sondern die dynamische Äquivalenz des Ausdrucks.
[1] Störig, Hans Joachim: Das Problem des Übersetzens. Stuttgart, H. Goverts Verlag 1963, 111-112.
[2] Stolze, Radigundis: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen, Narr 1997. Reiss, Katharina: Grundfragen der Übesetzungswissenschaft. Wien, WUV-Univ.-Verlag 1995. Snell-Hornby, Mary/Hönig, H. G./Kußmaul, P./Schmitt, P. A.: Handbuch Translation. Tübingen, Stauffenburg 1999.
[3] Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1990.
[4] Störig, a. O. 21.
[6] W. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: Störig, a. O. 182–196.
[7] Zu diesem äußerst komplexen Thema umfassend und trotzdem verständlich: Judith Macheiner: Übersetzen. Ein Vademecum. Frankfurt am Main, Eichborn 1995. Dies.: Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden. Frankfurt am Main, Eichborn 1998.
[8] E. A. Nida–C. R. Taber, Theorie und Praxis des Übersetzens. Stuttgart 1969.
Erstpublikation in: Wiener Byzantinistik und Neogräzistik. Beiträge zum Symposion Vierzig Jahre Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien im Gedenken an Herbert Hunger. Herausgegeben von Wolfram Hörandner, Johannes Koder, Maria A. Stassinopoulou. Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2004, 266-271.

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